Nach einigen Tagen im Hotel kann ich der Versuchung nicht widerstehen, im Morgengrauen in Turnschuhen und auf Zehenspitzen mein Zimmer zu verlassen, um bei einem Spaziergang Stadtluft zu schnappen. Zu jener Stunde, in der das Nachtleben und die Geschäftsleute, die mit Aktenkoffern in die City strömen, aufeinandertreffen, versteckt Frankfurt weder seinen Charme noch seine offenen Wunden.

Ich gehe in Richtung Mainufer, dem Frankfurter Ring entlang; eine grüne Oase, die die Altstadt umschliesst, und deren westlicher Teil sich aufspielt, als wäre er New Yorks Central Park. Nachdem ich den Opernplatz überquert habe, wo Strassenfeger die Überreste des Nachtlebens beseitigen, treffe ich auf die Neue Mainzer Strasse, gesäumt von einer Reihe von Wolkenkratzern. An der Ecke zur Großen Gallusstrasse blicke ich nach oben, um einen atemberaubenden Ausblick – einzigartig auf diesem Kontinent – zu geniessen. Manhattan lässt grüssen. Mit den grossen und ansprechenden Quais wirkt die Stadt bürgerlich und verschlafen. Am linken Flussufer befindet sich das Museumsufer, eine Gruppe von 15 Patriziervillen, die als Museen über das kulturelle Erbe wachen. Ich folge dem rechten Flussufer in kleinen Schritten bis zur Europäischen Zentralbank, eine Festung aus Glas und Beton, eine Hochburg der Mächte und Widersprüche aller Art. Lange Zeit wusste ich nicht, dass sich 100 m weiter, unter der Eisenbahnlinie eine Erinnerungsstätte versteckt. Auf dem Rückweg passiere ich das historische Zentrum der Stadt, wo nach 10 Jahren Bauzeit im September 2018 ein beispielloses architektonisches Meisterwerk in Europa fertiggestellt wurde: die Wiedergeburt des mittelalterlichen Stadtzentrums und die detailgetreue, fast identische Rekonstruktion von 35 Häusern, so, wie sie vor dem Krieg waren. Dies lässt die Querelle des Anciens et des Modernes wieder auflodern. Frankfurt befindet sich in einer Phase der Selbstfindung und Neuerfindung: Die einen zelebrieren auf perverse Art und Weise eine unter Bomben begrabene Vergangenheit, während die anderen eine unvergleichbare Chance sehen, in der Anonymität der Finanzviertel die verlorene Identität wiederzufinden … zwischen einer «neuen Altstadt» mit Disneyland-Atmosphäre und einer Skyline, die stetig ausgebaut wird (momentan werden Dutzende neue Wolkenkratzer gebaut). Vielleich findet sich die neue Identität im Four Frankfurt, mit der Vision, ab 2024 Leben, Wohnen und Arbeiten zu vereinen.

Es besteht kein Zweifel: Ich werde bald nach Frankfurt zurückkommen, um es herauszufinden.